Kapitel 24

Tommy, 22. Juni 2009

 

Tommy Molto hatte Sandy Stern schon immer mit gemischten Gefühlen betrachtet. Sandy war gut, keine Frage. Ein Schuster, der stolz auf sein Handwerk war, bewunderte ja auch einen anderen, der aus makellosem Leder Schuhe fertigte, die hart wie Eisen waren und sich am Fuß wie Samt anfühlten. Sandy war ein Maestro im Gerichtssaal. Er war argentinischer Abstammung und in den 1940ern während der Unruhen um Perón in die Vereinigten Staaten gekommen, und auch sechzig Jahre später spielte er noch den gelackten lateinamerikanischen Gentleman, mit einem ganz leichten Akzent, der seine Sprache würzte wie eine exotische Zutat - Trüffelöl oder Meersalz -, und mit Manieren wie der Empfangschef eines Luxushotels. Seine Masche kam dieser Tage besser an denn je, weil seine gelegentlichen halblauten Bemerkungen en espanol von mindestens zwei oder drei Geschworenen für die anderen übersetzt werden konnten.

Aber bei Sandy musste man aufpassen. Weil er so elegant wirkte, so korrekt, sah man ihm mehr nach als einem kleinen Anwalt, der bloß Kleinkriminelle vertrat. Tommy wusste, dass der ganze Schwachsinn, der ihm während Rusty Sabichs erstem Prozess um die Ohren geflogen war, die subtilen Vorwürfe, er wäre daran beteiligt gewesen, die Beweislage zu verfälschen, von Sandy ausgebrütet worden war, der sich in den Jahren danach Tommy gegenüber verhalten hatte, als wäre nichts von Bedeutung passiert, als hätte er in Tommys Leben nicht einen Makel hinterlassen, der bis heute nicht getilgt war.

Derzeit führte Sandy einen Kampf gegen den Krebs. Seinem Aussehen nach zu urteilen, stand es nicht gut um ihn. Er hatte eine Yul-Brynner-Frisur und bestimmt dreißig Kilo abgenommen, und von den Medikamenten hatte er einen Ausschlag bekommen, der ihm regelrecht eine Feuerspur durchs Gesicht zog. Gerade eben, ehe die Verhandlung weiterging, hatte Tommy Sandy gefragt, wie es ihm ging.

»Stabil«, sagte Sandy. »Ich wehre mich. In ein paar Wochen wissen wir mehr. Die letzte Therapie hat ganz gut angeschlagen. Auch wenn ich jetzt aussehe wie eine Figur aus Star Wars.« Er zeigte auf seine Wange.

»Ich schließe Sie in meine Gebete ein«, sagte Tommy. So ein Versprechen gab er nie, ohne es auch zu halten.

Aber so war das mit Sandy Stern. Man betete für seine Seele, und er fiel einem in den Rücken. Der Angeklagte trat nie als Erster in den Zeugenstand. Der Beschuldigte war in einem Prozess immer der letzte Akt, die Hauptattraktion, und er kam erst im allerletzten Augenblick zum Einsatz, damit die Entscheidung, als Zeuge aufzutreten, im Lichte der gesamten Beweisführung getroffen werden konnte und der Angeklagte bei den Geschworenen den größten Eindruck hinterließ, ehe die sich zur Beratung zurückzogen. Nicht dass Tommy völlig überrascht gewesen wäre. Er hatte schon die ganze Zeit mit Rustys Auftritt gerechnet, schon seit Richter Yee in der Vorverhandlung, im Richterzimmer, außer Hörweite der Presse, entschieden hatte, dass nichts aus dem ersten Prozess - weder die DNS-Ergebnisse noch der Mord an Carolyn Polhemus noch irgendetwas über das damit verbundene Gerichtsverfahren - in diesem Gerichtssaal zur Sprache kommen durfte. Aber Tommy hatte vorgehabt, die kommenden Nächte zu opfern, um sich gründlich vorzubereiten, Rustys Kreuzverhör genau zu planen und mit Brand durchzuspielen. Jetzt jedoch würde es genauso sein wie zu Tommys Zeit am Drogengericht vor dreißig Jahren, als er so viele Fälle gleichzeitig betreute, dass er sich auf keinen richtig vorbereiten konnte und seine Kreuzverhöre intuitiv führen musste. Wenn damals tatsächlich mal ein Angeklagter in den Zeugenstand trat, hätte man ihn am liebsten als Erstes nach seinem Namen gefragt, der einem entfallen war.

Während Tommy am Tisch der Anklagevertretung stand und so tat, als ginge er seine Unterlagen noch einmal durch, als gäbe es in seinen hastig hingekritzelten Notizen tatsächlich eine bestimmte Ordnung, überkam ihn eine Ruhe, die ihn schon den ganzen Fall hindurch begleitet hatte. Niemand würde je behaupten, dass Tommy im Gerichtssaal einen gelassenen Eindruck machte, in diesem Prozess ebenso wenig wie in anderen. Aber anders als sonst in den letzten Jahren, wo er während laufender Verfahren nachts regelmäßig von Ängsten heimgesucht wurde und mehrmals aufstand, war er jetzt mehr oder weniger entspannt und konnte neben Dominga die Nacht durchschlafen. Er wusste, die Auswirkungen, die dieses Urteil auf seine Zukunft und die seiner Familie haben würde, darauf, wie er für den Rest seines Lebens wahrgenommen werden würde, waren so groß, dass er sie schlicht als den Willen Gottes hinnehmen musste. Normalerweise hielt er nichts von der Vorstellung, dass Gott Seine Zeit damit vergeuden könnte, sich um ein so unbedeutendes Wesen wie Tommy Molto zu kümmern. Aber wieso hätten Rusty und er sich entgegen aller Wahrscheinlichkeit ein zweites Mal vor Gericht begegnen sollen, wenn der Ausgang des ersten Prozesses nicht gegen irgendeinen Grundsatz göttlicher Gerechtigkeit verstieß?

Zudem war Tommys Gefühlslage dadurch gefestigt worden, dass die Beweisführung der Anklage doch ein hübscheres Päckchen ergeben hatte, als er erwartet hatte. Tommy war seit dreißig Jahren Ankläger, und er wusste, wie wichtig es war, in dieser Phase der Verhandlungen an sich selbst zu glauben. Selbst im Griff der Paranoia musste man auf seinen Sieg vertrauen, sonst hatte man nicht die geringste Chance, die Geschworenen zu überzeugen. Und er war argwöhnisch. Noch war nicht abzusehen, was Stern vorhatte, doch aufgrund seiner langjährigen Erfahrung mit dem Mann erwartete Tommy das Unerwartete.

Das Eröffinungsplädoyer, das Stern vor zwei Wochen bei Prozessbeginn gehalten hatte, war ein fades Mantra von »begründeten Zweifeln«, in dem Stern nicht weniger als acht Mal den Begriff »Indizienprozess« bemühte. »Die Beweisführung der Anklage hat kein Geständnis vorzuweisen, keinen Augenzeugen. Die Beweisführung wird sich fast gänzlich auf Hypothesen stützen, die verschiedene Sachverständige über das Geschehen aufgestellt haben. Sie werden die Sachverständigen der Anklagevertreter hören und dann mindestens ebenso qualifizierte Sachverständige der Verteidigung, die Ihnen sagen werden, dass die Sachverständigen der Anklage sich mit hoher Wahrscheinlichkeit irren. Und, Ladys und Gentlemen, selbst die Sachverständigen der Anklagevertretung werden nicht mit Sicherheit sagen können, dass Mrs Sabich ermordet wurde, und schon gar nicht, von wem.« Stern war mit besorgtem Stirnrunzeln vor den Geschworenen stehen geblieben, als wäre ihm gerade erst klar geworden, wie abwegig es doch war, jemanden aufgrund einer derart dünnen Beweislage des Mordes überhaupt anzuklagen. Er war einige Schritte näher auf die Geschworenen zugegangen, als jeder Richter es normalerweise zulassen würde, und umklammerte das Geländer vor der Geschworenenbank, um sich abzustützen. Trotz der sommerlichen Hitze draußen trug Stern einen Dreiteiler, zweifellos aus seiner beleibtesten Lebensphase, der ihm jetzt so formlos um den Körper hing wie - kein Zufall - ein Krankenhaushemd. Es gab keinen Wechselfall des Lebens, den Sandy Stern nicht im Gerichtssaal zu seinen Gunsten ausschlachten würde. Sein ganzes Wesen war darauf ausgerichtet, er konnte nicht anders, so wie manche Männer nicht aufhören konnten, an Sex oder Geld zu denken. Er hatte sogar eine Möglichkeit gefunden, die Tatsache, dass er so abstoßend aussah wie eine Horrorgestalt, zum Wohle seines Mandanten zu nutzen. Seine reine Anwesenheit schien zu vermitteln, dass er vom Totenbett auferstanden war, um eine himmelschreiende Ungerechtigkeit zu verhindern. Lasst Rusty frei, so schien er zu sagen, und ich kann in Frieden sterben.

Schwer zu sagen, ob die Geschworenen darauf reinfallen würden, aber falls sie die Beweisführung der Staatsanwaltschaft aufmerksam verfolgt hatten, mussten sie eigentlich einsehen, dass die Ankläger nicht unrecht hatten. Nach einigem Hin und Her hatten sie als ersten Zeugen Rustys Sohn Nat aufgerufen. Das war riskant, vor allem, da Yee bereits entschieden hatte, dass Nat nach seiner Aussage im Gerichtssaal bleiben durfte, um seinem Vater beizustehen, und zwar ungeachtet dessen, dass er auch noch als Zeuge der Verteidigung aussagen würde. Trotzdem, es machte sich immer gut, wenn man die Gegenseite für sich aussagen lassen konnte, und Nat war ein ehrlicher Bursche, der Tag für Tag hier saß und mitunter aussah, als hätte er selbst so seine Zweifel. Im Zeugenstand räumte der jüngere Sabich ein, was er einräumen musste - dass sein Vater nach Barbaras Tod nicht die Polizei verständigen wollte oder dass Rusty an dem Abend, bevor sie starb, die Steaks gegrillt und den Wein eingeschenkt hatte, wodurch er reichlich Gelegenheit gehabt hätte, seiner Frau unbemerkt eine tödliche Dosis Phenelzin zu verabreichen.

Als Nächste wurde Nenny Strack aufgerufen. Sie trat besser auf als damals in Tommys Büro, nahm jedoch im Kreuzverhör fast alles zurück. Aber sie hatten sie nun mal am Hals. Wenn sie einen anderen Toxikologen aufgerufen hätten, dann würde Strack für die Verteidigung aussagen, den anderen Experten anfechten und beteuern, dass sie alle diese Bedenken auch der Staatsanwaltschaft gegenüber geäußert hatte. Stattdessen brachte Brand die Sache wieder in Ordnung, indem er den Rechtsmediziner aufrief, der aussagte, dass Barbara seiner sachverständigen Meinung nach an einer Überdosis Phenelzin gestorben war. Im Kreuzverhör nahm sich Marta Stern Dr. Russell zur Brust, und er geriet schwer unter Beschuss. Marta machte deutlich, dass Russell anfänglich von einer natürlichen Todesursache ausgegangen war und diese Möglichkeit aufgrund von postmortaler Redistribution auch jetzt noch nicht definitiv ausschließen konnte.

Aus diesem tiefen Tal war die Anklagevertretung stetig wieder nach oben ins Sonnenlicht geklettert. Barbaras eigener Pharmakologe trat kurz in den Zeugenstand und sagte aus, dass er sie wiederholt vor den Gefahren von Phenelzin gewarnt und die Nahrungsmittel genannt hatte, die sie meiden musste, wenn sie das Medikament einnahm. Harnason war Harnason, wirkte verschlagen und eigenartig, aber er hielt sich ans Drehbuch. Im Gegenzug für seine Aussage würde seine Haftstrafe von hundert auf fünfzig Jahre verringert werden, aber Harnason schien der einzige Mensch im Saal zu sein, dem nicht bewusst war, dass er im Gefängnis sterben würde. Er war der erste Zeuge, der nicht von Marta, sondern von Stern selbst ins Kreuzverhör genommen wurde, aber es war ein seltsam zurückhaltender Auftritt. Sandy hielt sich kaum damit auf, Harnason mit den garstigen Tatsachen zu attackieren, die der schon bei Brands Befragung eingestanden hatte — dass Harnason ein notorischer Lügner und Betrüger war, ein Flüchtling, der einen vor Gericht geleisteten Eid gebrochen hatte, und ein Mörder, der Nacht für Nacht neben seinem Geliebten geschlafen hatte, während er ihn gleichzeitig langsam vergiftete. Stattdessen ritt Stern die meiste Zeit auf Harnasons erster Anklage vor dreißig Jahren herum und ermunterte den Mann, sich darüber auszulassen, wie ungerecht seine Gefängnisstrafe gewesen war und wie Rustys Entscheidung praktisch sein Leben zerstört hatte. Aber Stern ging mit keinem Wort auf Harnasons Aussage ein, dass Rusty ihm vorab die Entscheidung des Berufungsgerichts verraten und ihn gefragt hatte, was es für ein Gefühl sei, jemanden zu vergiften.

Anschließend hatte George Mason, kommissarischer Chefrichter des Berufungsgerichts, ausführlich richterliche Grundprinzipien erläutert und Sabich damit ziemlich geschadet, wenngleich er im Kreuzverhör betonte, dass er ein langjähriger Freund Rustys sei und nach wie vor eine hohe Meinung von dessen Integrität und Glaubwürdigkeit habe.

Prima Dana Mann, glattzüngig, aber als Zeuge sichtlich nervös, hatte ausgesagt, dass seine Kanzlei ausschließlich Scheidungsfälle betreute, und zugegeben, dass er Rusty zweimal beraten hatte, das zweite Mal nur drei Wochen vor Barbaras Tod.

Zum Schluss hatte die Anklagevertretung ihre schwersten Geschütze aufgefahren: dass Rusty das Phenelzin abgeholt hatte, den Bericht über die Fingerabdrücke auf den Medikamenten aus Barbaras Arzneischrank, Rustys Einkäufe an Barbaras Todestag und schließlich Milo Gorvetich, den Computerexperten, der all die belastenden Dinge darlegte, auf die sie gestoßen waren, nachdem sie Rustys Privatcomputer beschlagnahmt hatten.

Nachdem die Anklage ihre Beweisaufnahme abgeschlossen hatte, stellte Marta einen Antrag auf Klageabweisung und erklärte leidenschaftlich, die Anklagevertretung habe nicht nachweisen können, dass überhaupt ein Mord begangen worden war. Richter Yee behielt sich eine Entscheidung vor. Normalerweise war das ein Zeichen dafür, dass der Richter mit dem Gedanken spielte, dem Antrag stattzugeben, doch Tommy vermutete eher, dass das nur Basil Yees typische Art war, reserviert und vorsichtig wie manche Hauskatzen.

Während Tommy jetzt neben dem Tisch der Anklagevertretung stand und seine Notizen durchblätterte, rutschte Jim Brand, der noch nach seinem morgendlichen Aftershave roch, mit seinem Stuhl näher und beugte sich zu ihm.

»Fragst du ihn nach der Frau?«

Tommy hatte in diesem Punkt nicht viel Hoffnung, aber er spürte, dass Yee ungeduldig wurde. Er trat vor. Yee hatte irgendwelche Unterlagen durchgesehen und blickte nun von der Richterbank zu Molto herunter.

»Euer Ehren, würden Sie uns anhören, ehe ich beginne?«

Nach drei Prozesswochen wussten die Geschworenen, was das bedeutete, und wurden unruhig. Mit Rücksicht auf Stern, der bei den geflüsterten Konferenzen neben der Richterbank nicht lange stehen konnte, ließ der Richter die Geschworenenbank räumen. Die Geschworenen mochten dieses Rein-und-raus-Schlurfen nicht, weil es ihnen das Gefühl gab, wie Kinder behandelt zu werden, die nicht mitbekommen sollten, worüber sich die Erwachsenen unterhielten.

Sobald sie draußen waren, trat Molto noch einen Schritt näher.

»Euer Ehren, da der Angeklagte sich entschlossen hat, als Zeuge aufzutreten, möchte ich ihn zu der Affäre befragen, die er vorletztes Jahr hatte.«

Sofort schoss Marta hoch, um Einspruch einzulegen. Es war für Tommy ein unerwarteter Rückschlag gewesen, dass Richter Yee dem Antrag der Verteidigung stattgegeben hatte, der es den Anklägern untersagte, den Beweis dafür anzutreten, dass Rusty im Frühjahr 2007 eine Geliebte gehabt hatte. Marta Stern hatte argumentiert, selbst wenn man die dürftigen Beweise für Sabichs Untreue akzeptierte - die Zeugen, die ihn in Hotels gesehen hatten, der Test auf Geschlechtskrankheiten -, so endeten diese doch fünfzehn Monate vor Barbaras Tod, allen voran das angebliche Verhaltensmuster des Chefrichters, von seinem Gehaltsscheck Bargeld abzuzweigen, um die Affäre zu finanzieren. Ohne hinreichende Belege dafür, dass Sabich mit dieser Frau auch noch zusammen war, als Mrs Sabich angeblich ermordet wurde, war der Sachverhalt irrelevant.

»Euer Ehren, es wäre ein mögliches Motiv«, hatte Tommy protestiert.«

»Inwiefern?«, fragte Yee.

»Weil er vielleicht mit dieser Frau zusammen sein wollte, Euer Ehren.«

»Vielleicht?« Richter Yee hatte den Kopf geschüttelt. »Beweisen, dass Richter Sabich irgendwann eine Affäre hatte - das kein Beweis dafür, dass er Mörder, Mr Molto. Wenn das Beweis«, sagte der Richter, »viele Männer sind Mörder.« Die Presseleute, die während der Vorverhandlung in der ersten Reihe saßen, hatten losgebrüllt, als hätte sich der stille Richter aus der Provinz in einen Komiker verwandelt.

Marta, die einen Brokatblazer trug, kam jetzt mit ihren roten Shirley-Temple-Löckchen nach vorne, um Tommys Bitte zu widersprechen, die der Richter schon vor Prozessbeginn abgelehnt hatte.

»Euer Ehren, das ist ein offensichtlich inakzeptabler Nachteil für den Angeklagten. Damit werden Spekulationen geweckt, dass Richter Sabich eine Affäre hatte, was, wie das Gericht bereits erklärt hat, für dieses Verfahren irrelevant ist. Und es ist dem Angeklagten gegenüber unfair, dessen Entscheidung zur Aussage auf den früheren Beschlüssen des Gerichts beruht.«

»Euer Ehren«, sagte Tommy, »Ihre Entscheidung trug der Tatsache Rechnung, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt des Mordes mit dieser unbekannten Frau zusammen war. Aber jetzt, wo er im Zeugenstand ist, sollten wir ihn zumindest zu diesem Punkt befragen dürfen.«

Richter Yee blickte zur Decke und fasste sich ans Kinn.

»Jetzt«, sagte er.

»Wie bitte?«, fragte Tommy. Der Richter war mit seiner frugalen Wortwahl zuweilen rätselhaft.

»Fragen Sie jetzt. Nicht gleich mit Geschworenen.«

»Jetzt?«, echote Tommy. Irgendwie fing er Rustys Blick auf, der ebenso verblüfft wirkte wie Tommy.

»Sie wollen fragen«, sagte der Richter. »Fragen Sie.«

Tommy hatte damit gerechnet, abgelehnt zu werden, und einen Moment lang fehlten ihm die Worte.

»Richter Sabich«, sagte er schließlich, »hatten sie im Frühjahr 2007 eine Affäre?«

»Nein, nein, nein«, sagte Yee. Er schüttelte, wie er das mitunter tat, oberlehrerhaft den Kopf. Der Richter war ein paar Pfund zu schwer, hatte ein Mondgesicht und schütteres graues Haar, das ihm am Schädel klebte. Wie Rusty kannte auch Tommy Yee schon seit vielen Jahren. Obwohl man bei dem Mann eigentlich nicht behaupten konnte, ihn zu kennen, dafür war er viel zu eigenbrötlerisch. Er war in Ware als Einzelgänger aufgewachsen, nicht nur, weil er für die dortige Landbevölkerung zu exotisch aussah und sprach, sondern auch weil er schon in der Schule eine dieser Intelligenzbestien war, die keiner verstehen konnte, selbst wenn er richtiges Englisch gesprochen hätte. Warum Yee beschlossen hatte, ausgerechnet Prozessanwalt zu werden, was vielleicht der einzige Beruf der Welt war, wovon ihm jeder halbwegs vernünftige Mensch abgeraten hätte, war allen ein Rätsel. Er hatte Macken, jeder hatte welche. Aber die Staatsanwaltschaft von Morgan County konnte ihn unmöglich ablehnen, einen Einheimischen, dessen Leistungen im Studium - er war der Beste seines Jahrgangs gewesen - die jedes Bewerbers der letzten zwanzig Jahre in den Schatten stellten. Wider Erwarten hatte Yee sich als Staatsanwalt ganz gut geschlagen, obwohl er am ehesten bei Berufungsverhandlungen glänzte. Letzten Endes setzte der Oberstaatsanwalt Himmel und Hölle in Bewegung, um ihn auf die Richterbank zu bekommen, wo Basil Yee regelrecht glänzte. Er war dafür bekannt, bei Juristentagungen auf den Putz zu hauen. Er trank etwas zu viel und verbrachte die Nächte am Pokertisch, einer von diesen Männern, die nicht oft von zu Hause wegkamen und die wenigen Gelegenheiten weidlich auskosteten.

Als Yee vom Obersten Gericht für den Vorsitz in diesem Prozess ernannt wurde, war Brand begeistert gewesen. Yee hatte in Prozessen, wo er allein über Schuld oder Unschuld befinden musste, erstaunlich einseitig zugunsten der Anklagevertretung entschieden, daher wussten sie, dass Stern sich keinesfalls gegen Geschworene aussprechen würde. Aber im Laufe der Jahre hatte Tommy gelernt, dass es bei jedem Prozess drei unterschiedliche Interessengruppen gab - die Anklage, die Verteidigung und das Gericht. Und das, was der Richter wollte, hatte häufig nichts mit den Sachverhalten des Falles zu tun. Yee war für diesen Prozess mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aufgrund seiner Statistik ausgewählt worden, denn er war der Richter, dessen Urteile im Staat am seltensten aufgehoben wurden, worauf er ungemein stolz war. Aber er hatte diese Spitzenposition nicht zufällig erreicht. Damit ging einher, dass er keine riskanten Entscheidungen traf. Im Strafrecht hatte nur der Angeklagte das Recht, Berufung einzulegen, und somit würde Richter Yee in Fragen der Beweisführung nur dann gegen Sabich entscheiden, wenn es Präzedenzfälle gab, die Tommys Argumentation eindeutig bestätigten. Im Herzen war Yee Staatsanwalt geblieben. Falls sie einen Schuldspruch für Rusty erreichten, würde er lebenslänglich bekommen. Doch bis dahin würde Richter Yee dem Angeklagten jeden erdenklichen Spielraum lassen.

»Besser ich frage, Mr Molto.« Der Richter lächelte. Im Grunde seines Herzens war er ein sanfter Mann. »Geht schneller«, sagte er. »Richter Sabich, als Ihre Frau starb, hatten Sie Affäre, Romanze, was immer« - Yee gestikulierte mit seinen kleinen Händen, um sich verständlich zu machen -, »irgendeinen Umgang mit anderer Frau?«

Rusty hatte sich auf dem Stuhl im Zeugenstand herumgedreht, um den Richter anzusehen. »Nein, Sir.«

»Und vorher, sagen wir, drei Monate - irgendeine Affäre, Romanze?«

»Nein, Sir.«

Der Richter nickte mit dem ganzen Oberkörper und forderte Molto mit einer Hand zu weiteren Fragen auf.

Tommy hatte sich zum Tisch der Anklagevertretung zurückgezogen und stand neben Brands Stuhl. Jim flüsterte: »Frag ihn, ob er sich amouröse Hoffnungen auf irgendeine Frau machte.«

Als Tommy die Frage stellte, reagierte Yee erneut mit einem entschiedenen Kopfschütteln.

»Nein, nein, Mr Molto, nicht in Amerika«, sagte der Richter. »Keine Gefängnisstrafe für was in Kopf eines Mannes.« Yee sah Rusty an. »Richter«, sagte Yee, »haben Sie mit anderer Frau über Liebe geredet? Irgendwann, sagen wir, drei Monate vor Tod von Ehefrau?«

Rusty antwortete sofort: »Nein, Sir.«

»Meine Entscheidung bleibt, Mr Molto«, sagte der Richter.

Tommy zuckte die Achseln und schaute zu Brand rüber, der aussah, als hätte Yee ihn mit einer Klinge durchbohrt. Die ganze Vorgehensweise brachte Tommy ein bisschen über Yee ins Grübeln. So spießig er auch wirkte, mit seinen Viskosehemden und der altmodischen Plastikbrille, er könnte auf Abwege geraten sein. Stille Wasser sind tief. Wenn es um Sex ging, wusste man nie.

»Holen Sie Geschworenen zurück«, sagte Richter Yee zu dem Gerichtsdiener.

Jetzt, wo es richtig losging, wusste Tommy plötzlich nicht mehr weiter.

»Wie soll ich ihn anreden?«, flüsterte er Brand zu. »Stern hat >Rusty< zu ihm gesagt.«

»>Richter<«, flüsterte Brand beschwörend. Er hatte natürlich recht. Wenn sie sich mit Vornamen ansprachen, würde das wieder diesem Vendetta-Gerede Futter liefern.

Tommy knöpfte sein Jackett zu. Wie immer war es um den Bauch rum ein klein wenig zu eng.

»Richter Sabich«, sagte er.

»Mr Molto.«

Auf dem Zeugenstand brachte Rusty immerhin ein Kopfnicken und ein Mona-Lisa-Lächeln zustande, das irgendwie ihrer jahrzehntelangen Bekanntschaft Tribut zollte. Es war eine dezente, aber gezielte Geste, eine von diesen Kleinigkeiten, die Geschworene immer registrierten. Auf einmal erinnerte sich Tommy an etwas, das er schon monatelang verdrängt hatte. Tommy war nur ein oder zwei Jahre nach Rusty zur Staatsanwaltschaft gekommen, sodass sie im Laufe der Zeit um dieselben Prozesse, dieselben Beförderungen hätten rivalisieren können. Aber dazu kam es nicht. Tommys bester Freund, Nico Deila Guardia, war Rustys Hauptkonkurrent gewesen. Tommy schaffte es nie bis dahin. Es war für alle offensichtlich, dass er nicht Rustys Intelligenz, Rustys Ausgebufftheit besaß. Alle hatten das gewusst, erinnerte sich Molto. Nicht zuletzt er selbst.

 

Der letzte Beweis
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